Die Vernichtungs­maschine stoppen

Moral ist ein Medium der Machtausübung – eine nüchterne Analyse zum Stand des Ukraine-Krieges ist nötiger denn je.

Krieg bedeutet unermessliches Leid. Das vergangene Jahr über habe ich in einem Kriegsgebiet gelebt und gearbeitet. Es ist schwer zu vermitteln, was die Menschen dort durchmachen müssen und was das mit einem selbst macht. Kann ein so existenzielles und traumatisierendes Ereignis also überhaupt nüchtern und sachlich diskutiert werden? Ja, das muss es sogar. Die Erfahrung der letzten zwei Jahre Debatte über den Krieg zeigt uns, dass wir das Moralisierende in dieser Diskussion überwinden müssen. Moral ist ein Medium der Machtausübung.

Im Juni vergangenen Jahres begann die Gegenoffensive der ukrainischen Armee. Nach den hohen Verlusten der russischen Seite bei ihren Offensivoperationen war die durch die Selenskyj-Regierung selbst definierte Erwartung an die ukrainische Offensive, die Zurückdrängung der russischen Armee und die Befreiung des besetzten Territoriums. Aber der dafür notwendige Durchbruch durch die stark befestigten Linien konnte nicht erreicht werden.

Nach einer Berechnung des Economist aus dem September 2023 wurden im Verlauf der Gegenoffensive weniger als 0,25 Prozent des Territoriums, das Russland im Juni 2023 – also bei Beginn der Gegenoffensive – hielt, von der russischen Besatzung befreit. Die mehr als 1.000 Kilometer lange Frontlinie hatte sich kaum bewegt. Die Gegenoffensive blieb praktisch ohne Effekt. Dafür sind mindestens Zehntausende auf beiden Seiten gestorben. Von ukrainischer Seite werden die russischen Verluste seit Beginn des Krieges mit etwa 150.000 Soldaten beziffert. Die Selenskyj-Regierung hat vor kurzem zudem erstmals eine Zahl von 31.000 getöteten ukrainischen Soldat*innen veröffentlicht. Obwohl beide Zahlen als Kriegspropaganda betrachtet werden müssen, geben sie trotzdem einen Einblick in den Abgrund.

Die Auseinandersetzung innerhalb der ukrainischen Führung über den Ausgang der Gegenoffensive und die daraus zu ziehenden Konsequenzen haben zur Entlassung des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyi, Anfang Februar dieses Jahres geführt. Saluschnyi hatte den Krieg als stalemate – als blutiges Patt – bezeichnet und einen Vergleich mit dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg gezogen. Die Reaktionen aus dem Selenskyj-Umfeld waren diesbezüglich eindeutig: Wer nicht mehr an den Sieg glaubt, für den gibt es keinen Platz in der ukrainischen Führung.

Auch die Verteidigung der seit Jahren – bereits vor der russischen Vollinvasion verlief hier die Frontlinie – umkämpften Kleinstadt Avdiivka spielte bei dem Disput eine Rolle. Die Ersetzung Saluschnyis durch Oleksandr Syrskij habe vor allem damit zu tun gehabt, dass Syrskij versprach, Avdiivka zu halten, während Saluschnyi diese und ähnliche Vorgaben Selenskyjs mehrfach als unrealistisch zurückgewiesen haben soll, wie der in Berlin lebende Konfliktbeobachter Nikita Gerassimov berichtete. Kaum eine Woche nach der Amtsübernahme durch Syrskij ist Avdiivka gefallen. Die Verteidigung ist innerhalb kürzester Zeit kollabiert und die gesamte Stadt wurde in wenig mehr als 24 Stunden eingenommen. Die neue ukrainische Armeeführung hat in diesem Zeitfenster laut Gerassimov Eliteeinheiten und andere Reserven in den sich schnell schließenden Kessel geschickt, die wenige Stunden später fluchtartig und unter hohen Verlusten abgezogen werden mussten.

Das Halten der Kleinstadt bis zum bitteren Ende hat dabei wesentlich mehr Menschenleben gekostet, als es bei einem geordneten Rückzug der Fall gewesen wäre. Es werden darüber hinaus keine substanziellen Konsequenzen aus dem Scheitern der Sommer-Gegenoffensive gezogen, sondern vielmehr nächste Offensiven, nun unter neuer Armeeführung, vorbereitet, dafür sollen u.a. 500.000 Soldaten mobilisiert werden. Damit dreht sich das verhängnisvolle Rad von Offensive und Gegenoffensive weiter, ohne eine Aussicht auf Besserung der Lage für die Ukraine. Die Realität an der Front ist vielmehr im Gegenteil davon geprägt, dass sich das Patt zuungunsten der Ukraine aufzulösen beginnt. An diversen Abschnitten ist die russische Armee in die Offensive übergegangen.

Friedensverhandlungen sind möglich

Es ist ein beständig wiederholtes Argument, dass das Putin-Regime nicht verhandeln wolle und dass es ihm um nichts weniger als die Auslöschung der Ukraine gehe (und danach die des Westens als Ganzes). Dass es entgegen dieser Behauptung bereits Ende März 2022 Friedensverhandlungen in Istanbul gab, ist von Dawyd Arachamija, dem Fraktionsvorsitzenden von Selenskyjs Partei Diener des Volkes, im ukrainischen Fernsehen bestätigt worden. Er selbst war Chefunterhändler bei den Friedensgesprächen. Laut Archamija war die Hauptforderung des Putin-Regimes die Neutralität der Ukraine. Natürlich ist es eine berechtigte Frage, ob und unter welchen Bedingungen sich die ukrainische Führung auf solche Forderungen einlässt. Aber das ist etwas grundsätzlich anderes, als zu behaupten, es gebe überhaupt keine Grundlage, um über einen Frieden zu verhandeln, wie es in der deutschen Medienlandschaft ununterbrochen wiederholt und in die Köpfe gehämmert wird.

Auch die Behauptung, dass in der Ukraine Meinungsfreiheit und Rechtsstaat herrschten, wird in der deutschen Medienlandschaft zwar ununterbrochen wiederholt, hält einer kritischen Überprüfung allerdings nicht umfassend Stand. Diese entrückte kollektive Wahrnehmung basiert auf der gewaltsamen Schließung eines zunehmend autoritär-populistischen Narratives, das immer wieder auch ganz offen in Russophobie umschlägt.

Die ukrainische Wissenschaftlerin und frühere Journalistin Olga Baysha weist darauf hin, dass bereits die Infragestellung der offiziellen Bezeichnung »Anti-Terroreinsatz« für den seit 2014 andauernden Krieg im Donbass und dessen alternative Deutung als »Bürgerkrieg« den Verfasser*innen entsprechender Beiträge in der Ukraine Anklagen wegen Hochverrats eingebracht haben. Das gelte auch generell für Anti-Maidan-Narrative, so Baysha. Sie charakterisiert das Vorgehen gegen diese alternativen Deutungen als »war on journalism«. Das Verbot mehrerer Fernsehkanäle sowie von elf politischen Parteien, die Zensur auf Youtube und Facebook sowie die Eröffnung von über 18.000 Verfahren wegen Kollaboration oder Verrat sind Teil dieser gewaltsamen Schließung des öffentlichen Diskurses.

Dabei kann Kollaboration oder Verrat auch heißen, Social-Media-Inhalte zu teilen, die sich nicht in den offiziellen Diskurs einreihen. Dissidente öffentliche Stimmen werden gesilenced und der kollektive Westen übernimmt die eindimensionale Erzählung von der Einheit des ukrainischen Volkes und dem Kampf zwischen Gut und Böse. Dass laut UNHCR 2,8 Millionen Menschen zwischen dem Beginn der Invasion und Februar 2024 nach Russland geflohen sind, passt nicht in dieses Bild. Für die gesellschaftliche Linke wird es höchste Zeit, sich kritisch mit der herrschenden Erzählung auseinanderzusetzen und die Mechanismen und Diskurseffekte des Informationskrieges zu hinterfragen, denn sie selbst ist davon mehr oder weniger stark beeinflusst. Olga Baysha kommt zu dem Schluss: »the ostensible unity of Ukraine fighting against tryrannical Russia has been achieved by means of arresting, torturing, prosecuting, and killing those who hold alternative views.«

Wenn die Stimmung kippt, kippen wir mit

Eine verbreitete Position zu diesem Krieg lautet ungefähr so: Weil es sich bei dem Ukraine-Krieg um einen antikolonialen Befreiungskampf handele, müsse die Linke die ukrainische Seite unterstützen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den historischen Dekolonisierungsbewegungen und der Situation in der Ukraine besteht aber offensichtlich darin, dass jene ihre Unabhängigkeit umfassend kulturell, wirtschaftlich und politisch gedacht haben. Deshalb gab es damals die Perspektive der alternativen Wirtschaftskonzepte und die zentrale Strategie der Importsubstitution. Deshalb wurde 1955 auf der Bandung-Konferenz die Bewegung der blockfreien Staaten gegründet.

Das Ziel des Kampfes um Unabhängigkeit war eben nicht die Integration in einen der beiden imperialistischen Blöcke, wie es beim Krieg um die Ukraine der Fall ist. Der ukrainische Soziologe Volodymyr Ishchenko hat diese Unterschiede ausführlich beleuchtet und weist darauf hin, dass wenn von der »Dekolonisierung der Ukraine« gesprochen wird, es zumeist um Symbole und Identitäten gehe, nicht aber um soziale Transformation, die Stärkung staatsinterventionistischer Politiken oder eine dritte politische Option. Der Ukraine-Krieg ist auch ein Krieg um die Ukraine als Einflussgebiet. Wer diese Dimension nicht sehen will, kann auch den Kriegsgrund und die Dynamik dahinter, die letztlich zur aktuellen Misere geführt hat, nicht sehen.

Unbestritten hat der Ukraine-Krieg allerdings auch die Dimension eines legitimen Verteidigungskriegs. Es gibt viele Menschen, die nicht unter russischer Herrschaft oder unter derjenigen des Putin-Regimes leben wollen. Müssen wir das nicht unterstützen? Auf diese Frage kann mensch unmittelbar nur mit ja antworten. Das Problem dabei ist aber, dass sich die zweite Frage sofort daran anschließt: Auf welche Weise können wir das unterstützen, wenn die Konsequenz daraus dieser Krieg und dessen Eskalation ist, der die Ukraine und eine ganze Generation zu zerreiben droht, während Solidarität ausschließlich als militärische Unterstützung gedacht wird? Die Katastrophe ist nicht nur der russische Überfall, sondern ebenso die Fortführung der Vernichtungsmaschine Krieg selbst.

Der Hamburger Genosse Christoph Kleine hat in seinem Beitrag in ak 694 im Juni 2023 zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig es für die deutsche Linke ist, den russichen und ukrainischen Genoss*innen zuzuhören. Dennoch heißt zuhören nicht automatisch auch zustimmen. Im Grunde läuft sein Vorschlag darauf hinaus, dass wir Waffenlieferungen fordern sollen, bis die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung kippt, und wenn das geschieht, kippen wir mit. Kann das wirklich unsere Position zum Krieg sein? Ist es nicht die bedauerliche, aber doch in gewissem Sinne normale Dialektik des Krieges, dass sich erst nach und nach das Entsetzen über die Realität des Krieges durchsetzt?

Und selbst wenn das als eine vertretbare Position betrachtet wird, wie stellen wir fest, wann die Stimmung kippt? Ist sie vielleicht schon gekippt angesichts der neuen Mobilmachung, der Desertion und dem wachsenden Protest von Ehefrauen und Müttern von Soldaten für deren Demobilisierung? Wenn mensch einer aktuellen Befragung des Kyiv International Institute of Sociology Glauben schenkt, sehen im Februar 2024 nur noch 44 Prozent der Befragten Ukrainer*innen ihr Land »eher« oder »definitiv auf dem richtigen Weg«. Im Mai 2022 waren es noch 68 Prozent. Und darin ist die Meinung derer, die auf russisch kontrolliertem Gebiet leben, noch gar nicht enthalten. 2021 waren dies noch annährend sechs Millionen Menschen. Läuft also Christoph Kleines Argument nicht, bei aller rhetorischen Bezugnahme auf die ukrainische Linke, auf die Unterstützung dessen hinaus, was die Selenskyi-Regierung als politische Linie vorgibt? Und, auch diese Frage muss erlaubt sein, was soll eigentlich die Existenzberechtigung einer Linken sein, die im Prinzip nur die Forderungen der Selenskyj-Regierung und von Marie-Agnes Strack-Zimmerman und Toni Hofreiter wiederholt und bekräftigt?

Das Dilemma an der derzeitigen Situation in der Ukraine ist unter anderem, dass es keine materielle Perspektive auf Befreiung im umfassenden, revolutionären Sinne gibt. Bleibt als Rückzugs- und Ausblickpunkt aktuell also nur die Perspektive eines radikalen Humanismus, der die Ausweitung des globalen Kriegsregimes bekämpft? Mag sein. Allerdings brauchen wir, während sich die Globalisierung zunehmend militarisiert, auch weiterhin das langfristige Ziel, eine Kraft aufzubauen, die in der Lage ist, aus der in die globale Katastrophe führenden Kriegslogik auszusteigen und die Regierungen zur Friedenserhaltung zu zwingen. Selbst wenn schon diese sehr reformistische Perspektive angesichts der Kraftverhältnisse momentan eher utopisch wirkt.
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Daniel Seiffert ist organisiert bei der Interventionistischen Linken und im Rheinmetall-Entwaffnen-Bündnis aktiv.